Übers Lesen – Gespräch mit Erwin Grosche (1. Teil)

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Erwin Grosche ist einer der wichtigsten deutschen Kinderbuchautoren und Kinderliedermacher und für uns sowieso ein Hasenfenster-Liebling. Vor einiger Zeit schon durften wir ihn in einem Interview porträtieren. Und jetzt sprechen wir uns wieder. Dieses Mal geht es ums Lesen und um Bücher und um Lieblingsbücher und wie wichtig das alles ist, denn Erwin Grosche ist ebenso ein großer Leseförderer, Botschafter der Stiftung Lesen und Schirmherr von „Mentor – Die Leselernhelfer“.

Gerade in Zeiten von #Zuhausebleiben ist es eine große Beruhigung, genügend Bücher im Haus zu haben, wenn die Buchhändlerin des Vertrauens erreichbar bleibt und inzwischen auch die Bibliotheken wieder geöffnet sind! Denn, das stimmt schon mal wirklich: Wer ein Buch hat, kriegt keine Langeweile!

Reden per Email

Unser Gespräch mit Erwin Grosche führen wir per Email, also mit Zeit und Muße und Spannung auf die nächste Antwort. Hier lest ihr den ersten Teil…

Hasenfenster

Wir haben uns schon einmal darüber unterhalten, wie deine Arbeit als Autor ist und wie du dazu gekommen bist. Jetzt möchte ich mit dir gerne übers Lesen reden. Und deshalb zu allererst die Frage, was dir das Lesen bedeutet. Wie und wo liest du?

Erwin Grosche

Meine wunderbarsten Erlebnisse hatte ich durch das Lesen und Sammeln von Büchern. Ich lese alles, was mir vor die Nase kommt. Okay, die Wirtschaftsseiten einer Zeitung oder humoristische Bücher lese ich nur, wenn ich keinen anderen Lesenachschub finden kann. Das kam selten vor, kam aber vor. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob es mal eine Zeit gegeben hat, in der ich nicht gelesen habe, dabei ging ich als Kind morgens aus dem Haus und kam erst abends wieder.

Comics als Leseanfang

Im Grunde ist meine ganze Lebensplanung daraufhin ausgerichtet, dass ich immer genügend Zeit zum Lesen habe. Vielleicht ist das Ansehen von Bäumen, das Träumen unter Wolken, das Küssen von Menschen, das Summen von unbekannten Liedern mit dem Lesen verwandt. Der Klang von Wörtern kann schwere Eisentüren öffnen. Meine Eltern hatten eine Bäckerei und einen Lebensmittelladen, in dem auch Zeitschriften verkauft wurden. Ich las dort schon, bevor ich lesen konnte, den „Kicker“ und die Comics vom „Ralf, der Sheriff“ (1960-1961).

Bücher, die man nicht vergisst

Den „Kleinen Prinzen“ las ich auf der Mauer, die heute die Stadtbibliothek umrahmt. Damals habe ich das Buch geliebt, heute sind mir kleine Prinzen genauso unheimlich wie Krankenhausclowns. Die Geschichten von Lucky Luke verschlang ich samstags in der Badewanne. Und das noch zu einer Zeit, als er in dem Comic rauchen durfte. Ich habe schon als Schüler freiwillig Senecas „Von der Kürze des Lebens“ gelesen und fand in einem Antiquariat in der Grube das Buch von Alja Rachmanowa „Studenten, Liebe, Tscheka und Tod.“, die eigentlich Galina Djuragina hieß, in einer blutroten Ausgabe von 1950. Kein Mensch kannte damals oder kennt heute die Autorin. Vielleicht fing ich damals an, Bücher nicht nach Empfehlungen zu kaufen, sondern sie selbst zu entdecken. Ich habe dieses 500seitige Buch von Alja Rachmanowa nie wieder vergessen, auch wenn ich nicht mehr sagen könnte, was darin stand. Ich weiß genau, wo es in meinem Bücherregal steht und als bei mir mal vor einigen Jahren eingebrochen wurde, war ich froh, dass die dummen Diebe nur Geld gefunden hatten und mein Buch von Rachmanowa unberührt im Regal stehen ließen (genauso wie die einzigartigen Bücher von Walker Percy). „Homo Faber“ von Max Frisch las ich dreimal, mit wachsendem Genuss und die wunderbaren Erzählungen von Salinger sogar in unterschiedlichen Übersetzungen. Annemarie und Heinrich Böll übertrugen sie zuerst ins Deutsche und später übersetzte Eike Schönfeld sie noch einmal. Ich kann nicht sagen, welche Übertragung mich mehr begeistert hat. Salingers Erzählungen sind immer wieder ein Trost, egal in welcher Sprachangleichung.

Bücher sind Freunde

Manchmal gehe ich an meinen Bücherregalen entlang und freue mich schon darauf, dass ich so viele Bücher noch entdecken darf, und diese Abenteuerreisen noch vor mir habe. Auch Bücher von meinen Freunden Robert Walser und Christian Morgenstern sind darunter und freuen sich darauf, wenn ich sie besuchen komme. Wenn ich lese, ist das Eintauchen in eine andere Welt vollkommen. Ich schlage eine Seite um, als müsste ich den schweren Stein vom Ausgang der Räuberhöhle rollen. Die Welt betrachten zu dürfen durch die Augen eines Schriftstellers, ist eine vertrauliche Umarmung. Die Welt ist nicht nur zu verstehen durch Fakten, sondern auch durch Träume, Stimmungen und Schicksale. „Versteh mich nicht so schnell“, scheint oft ein Buch zu rufen. Wenn man sich überlegt, dass manche Autoren, wie Peter Nadas, 18 Jahre an einem Werk wie den „Parallelgeschichten“ geschrieben haben, kann ich auch versuchen sein Buch so zu achten, dass ich jeden Satz auf meiner Zunge zergehen lasse wie den Apfelkuchen von Frau Weyher. Schriftsteller wie Peter Handke, dessen Auftreten ich manchmal kaum ertragen kann, kann ich aber trotzdem mit Gewinn lesen. Er gehört zu den Schriftstellern, die eine eigene Sicht auf die Welt haben. Sie erschaffen einen Freiraum, in der sich auch Sonderlinge einfügen können. Man kann sich manchmal den Wahrnehmungen anderer Menschen überlassen, wenn man die eigene Sicht auf die Weltordnung in Frage stellen will. 

Es ist erstaunlich wie viele Bücher ich mal verschlungen habe. Dass ich nebenbei selbst über 70 Bücher in die Schreibmaschine gehauen habe, verstehe ich auch nicht mehr. Heutzutage vertiefe ich mich anders in ein Buch. Ich bleibe länger an manchen Bildern haften. Das mich ein Roman wirklich fesselt kommt seltener vor. Viele der neuen Autoren kenne ich nicht mehr und das marktorientierte Schreiben macht es schwerer wahre Schätze zu heben. Alles klingt ähnlich und viele schreiben von den gleichen Vorkommnissen. Zum Glück durfte ich noch Autoren entdecken, die trotz weniger Buchverkäufe auffielen. Einer meiner Lieblingsautoren Wilhelm Genazino starb 2019 und Ror Wolf Anfang diesen Jahres 2020. Ich habe aber das Gefühl, dass sie immer noch um mich herum stehen und mir zuwinken. Man kann von den Besten lernen, wie unwichtig der Erfolg ist. Wenn ich mal sterbe, würde ich gerne alle Bücher mitnehmen, die mich umgeben, also auch die, die ich schon gelesen habe und auch die, die ich nicht mag.

Hasenfenster

Was hast du zuletzt gelesen? Liest du Bücher immer durch? Liest du manchmal das Ende schon, bevor es dran ist?

Erwin Grosche

Zum Glück habe ich in der letzten Zeit viele Bücher gelesen, die mich bis zum Schluss forderten und sehr gut unterhielten. Es gibt ein Buch, das mir nicht nur schnell am Herzen lag, sondern mich auch sehr bereicherte. Ich bin immer noch ganz voll von Terezia Moras:„Auf dem Seil.“ Es ist sprachlich so vollkommen, dass ich ganze Passagen gekennzeichnet habe, um sie schnell wiederzufinden, wenn ich mal wieder Aufmunterung brauche. Ein gleichzeitig trauriges und auch sehr heiteres Buch. Loser unter sich und das an jeder Front.

Wenn mir ein Werk gefallen hat, dass mir nur zufällig über den Weg lief, hole ich mir in der Regel noch ein Buch des Autors, damit ich ihn nicht vergesse und auf diesen One Night Stand aufbauen kann. Die Freude auf ein Buch, in dessen Hände man sich begeben will, ist durch kaum etwas anderes zu ersetzen.

Das Ende lesen, bevor es dran wäre…

Nun aber zu den 6 Büchern, in denen ich mir das Ende schon vorher angeschaut habe. („Angeschaut habe“ ist vielleicht der richtige Ausdruck für dieses Vorwegnehmen. Man liest nicht vorab Schlussgedanken, bis man sich durch die Vorbereitung des Autors gekämpft hat. Das Ende des Buches löst den Knoten, es führt alle Gedanken zusammen, es erlöst den Leser von seinen Mutmaßungen, es entlässt ihn zu neuen Abenteuern.)  Ich möchte Gründe anführen, warum ich von deren Geschichten den Schluss vorher wissen musste und mich nebenbei für Bücher outen, die ich nicht durchgelesen, sogar wieder ins Regal stellte. Die Geschichte einer Kapitulation. Ich hoffe dafür auf Verständnis und bitte um Vergebung.

1. „Die Pest“, Albert Camus (rororo)

Ich bin froh, dass diese Corona-Zeiten wenigstens dafür gut waren, dass ich die Pest von Camus las. Ich besitze das Buch des Literaturnobelpreisträgers in zwei Ausgaben und kenne die Plätze genau, wo sie zu Hause im Regal stehen. Ich würde sie im Dunkeln finden. Manche haben die Pest in der Schule gelesen und mir hätte es auch gereicht jemanden zu kennen, der es gelesen hat, aber dann sprang mich das Buch an wie ein Hund. Man erfuhr in diesen Tagen so viel von dem Buch, dass es besser war es zu lesen, als sich den dauernden Ahnungen hinzugeben. Es gehört neben Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, Goethes „Faust II“, Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ u.a. sowieso zu den Büchern, die ich noch unbedingt kennenlernen wollte. Da kam mir die Pest gerade recht.

Ich las es dann in der Retroausgabe von rororo, in einer klitzekleinen Schrift, die sicherlich bei der Erstveröffentlichung 1947 nicht größer erschien, nur weil ich bessere Augen hatte. Eigentlich klingt schon der Titel des Buches so, als würde es jeden überfordern. Das lag natürlich auch daran, dass rororo die Buchcover von Camus (und auch von Sartre) in einem dunklen Rot mit schwarzen Innenquadrat präsentierte. Das wirkte entschieden nach Zartbitter mit einem Schuss Margarethe von Trotta. Nun weiß ich Bescheid. „Entschuldige, Albert Camus, das tut mir so leid. Ich habe dir Unrecht getan. Die Pest ist großartig und lesenswert. “ Das Werk hat immerhin sieben Umzüge und 4 Bücherentrümpelungen überlebt und das in beiden Ausgaben.

Es ist eine Geschichte über die Pest, aber auch ein Buch über Männer, die sich dafür zusammentun, um zu helfen. Das ist anrührend und tröstlich. Ich gestehe aber nun, dass ich vierzig Seiten vor dem Schluss einen oberflächlichen Blick auf das Ende geworfen habe. Man ist doch auch nur ein Mensch. Ich hatte schlimme Vorahnungen, wie Camus es abschließen könnte und wollte dadurch meine Betroffenheit ein wenig in den Griff bekommen. Es war kein Durchlesen der letzten Seiten, sondern ein leichtes Überfliegen auf der Suche nach Worten, die meinen Verdacht bestätigen.

Camus hat uns natürlich auch am Ende des Buches nicht geschont und manche der liebgewordenen Handlungsträger ihrem Schicksal überlassen. Zum Glück traf mich diese Tatsache nicht unvorbereitet. So ist meine Vorwegnahme des Begebenheiten vielleicht verzeihbar. Vielleicht hätte ich noch etwas an der Handlung verhindern können.

2. „Sweet Sorrow – Weil die erste Liebe unvergesslich ist“, David Nicholls (Ullstein)

Natürlich hätte ich nach einem Camus keinen reinen Unterhaltungsroman lesen sollen, der mich dann so wenig ergriff, dass ich ihn nach 108 Seiten, das Bändchen ist noch dort zu finden, aufgab.

Ich hatte von Nicholls mal ein wunderbares Buch gelesen und weiß nicht mehr ob es „Zwei an einem Tag“ oder ein anderer Bestseller war. Nichts gegen Bestseller. Ich liebte auch die ersten Bücher von Thommy Bayer. Sein Buch „Das Herz ist eine miese Gegend“ ist wundervoll. So leicht und gleichzeitig so wahrhaftig konnte damals kein Autor in Deutschland schreiben. Leider haben mich dann viele seiner neuen Bücher nicht mehr erreicht und ich habe sie nicht zu Ende gelesen, weil ich mir das Ende denken konnte. Natürlich ist es ungeheuer schwer einen guten Unterhaltungsroman zu schreiben.

Sehr verlässlich ist da Anne Tyler, deren berühmtestes Buch „Die Reisen des Mr. Leary“ man mehrmals ganz durchlesen sollte. Das Wort „Unterhaltungsliteratur“ stimmt auch nicht als Gattungsbezeichnung für die Werke von Anne Tyler. Ihre Geschichten erscheinen leicht und die Handlungen undramatisch, aber sie sind von einer tiefen Weisheit und handeln von Familien, vom Nachbarn, von Heirat und vom Tod. Es ist alles genau beschrieben, die Figuren leben und die Geschichten haben überraschende Wendungen, die so spannend sind, dass man zwar manchmal zum Ende huscht, aber nur damit man sicher ist, dass den liebgewordenen Handlungsträgern nichts passiert. Vielleicht kann man sie warnen.

In Deutschland ist Doris Dörrie damit zu vergleichen, die auch die Gabe hat mit großer Leichtigkeit alles Schwere und Tiefe zuzulassen. Ich hätte nach dem Camus also ein Buch von Anne Tyler lesen sollen. Sie ist verlässlich und hat immer viel zu sagen. Eigentlich hat sie mich nur einmal in ihrer Bearbeitung des Shakespeare Stoffes von „der widerspenstigen Zähmung“ enttäuscht. Das war nichts. Ihr ganz neues Buch „Der Sinn des Ganzen“, Kein&Aber Verlag, liegt schon neben meinem Bett und wenn ich von meinem aktuellen Eintauchen in das sehr gute Buch von Anna Weidenholzer „Finde einem Schwan ein Boot“ erwache, werde ich Anne Tyler besuchen und zwar unangemeldet. Man sollte also nie nach einem Camus Buch ein Buch von David Nicholls lesen. David Nicholls hat einen Strandroman geschrieben und Camus ist halt Weltliteratur. Auch wenn man sich von schwerer Kost erholen muss, darf es ruhig, zum Beispiel, durch Alice Munro sein, die 2013 den Literaturnobelreis bekam und eine Freundin von Anne Tyler ist.

3. „Der schönste Liebesroman des Jahrhunderts (oder so)“ 

Auch dieses Werk, dessen Titel und Autor ich nicht mehr weiß, habe ich nicht zu Ende gelesen. Welch schmerzliches Erlebnis. Ich hatte das Buch ebenfalls in zwei Ausgaben erworben, die aber, so weit ich mich erinnere, vom gleichen Übersetzer übersetzt worden waren. Die Covergestaltung war nur anders und beide Male sehr gelungen. Schöne Fotos von Menschen, die sich lieben.

Ich weiß noch, dass es in dem Werk um einen Mann ging, den ich nicht mochte, dem aber die Frauen verfallen waren, obwohl er sie schlecht behandelte. Irgend so etwas Ärgerliches war das. Es ging weniger  um Liebe, sondern um Macht. Auf dem Buchrücken war eine Empfehlung von Elke Heidenreich zu lesen, die dieses Buch als den größten Liebesroman des Jahrhundert anpries. Natürlich wollte ich dieses Buch haben und lesen, wer will nicht alles von der schönsten Liebesgeschichte der Welt wissen. Ich war danach sehr enttäuscht und habe meine Lesereise mittendrin abgebrochen.

Das Buch beschrieb etwas anderes als der Titel versprochen hatte, die Geschichte war auch nicht so, wie Elke Heidenreich sie einem verkaufen wollte. Seitdem lese ich keine Bücher mehr, die Elke Heidenreich empfohlen hat. Ich hatte mich so auf dieses Buch gefreut. Ich hatte es aufgehoben für die guten Tage, um es dann zu lesen, wenn ich Zeit und Muße habe, und dann das. Das Buch hatte auch so einen schönen Titel gehabt, dass ich sogar im Internet recherchiert habe, um diesen Titel dem Vergessen zu entreißen. Ich fand dann bei den größten 75 Liebesromanen ganz sonderbare Bücher, auch solche Schinken wie „Love Story“ von Erich Segal, fand aber nichts, dass mich irgendwie an diese Enttäuschung des Jahrhunderts erinnert hatte.

Ich weiß auch nicht mehr was ich mit diesem Buch gemacht habe. Beide Ausgaben sind verschwunden. Wahrscheinlich habe ich sie meinem schlimmsten Feind geschenkt, der dann dieses Buch ganz toll gefunden hat. Übrigens wurde auch der Roman „Sweet Sorrow“ von David Nicholls in einer Kultursendung auf Deutschlandfunk-Kultur empfohlen und sich dort nur über den Untertitel der deutschen Ausgabe gewundert. Im Grunde ist es schwierig das ideale Buch zu finden, aber das gibt es. Man muss stetig auf der Suche bleiben und hauptsächlich seinem eigenen Instinkt und seinem Glück folgen.

4. „DER DUDEN – Rechtschreibung“ (Dudenverlag)

Ich kaufte mir 1977 drei Bücher der 10 bändigen Reihe des Dudenverlags. Es war Band 1 – ein Buch über die Rechtschreibung, Band 3 – welches sich mit wunderschönen Zeichnungen als Bildwörterbuch „Die Gegenstände und ihre Benennung“ präsentierte und noch einen dritten Besserwisserklassiker, der nicht mehr in meinem Regal steht und von mir wohl mal verliehen wurde. Das ist ärgerlich, wenn man Bücher nicht mehr wiederbekommt.

Okay, ein DUDEN ist kein Buch, an em man überschwänglich hängt, aber ich vermisse immer noch die ersten Originalausgaben von Wolf Wondratscheks Gedichtbänden, die er damals im 2001-Verlag veröffentlicht hatte, und in denen er uns Suchenden mit unglaublich coolen Hymen Trost gab. Wie die schon hießen: „Früher begann der Tag mit einer Schusswunde“, oder „Der Bauer zeugt mit seiner Bäuerin einen Jungen, der unbedingt Knecht werden will“, oder „Nichts tut weher als das leise Flüstern am Ohr eines anderen.“  Ich hoffe, ich werfe da nichts durcheinander, da ich das nur aus der Erinnerung zitieren kann. Die Bücher sind halt futschikato. Ich meine sogar zu wissen, dass ich diese Bücher Rene Madrid, dem berühmten Akkordeonspieler, geliehen habe, der das aber immer abgestritten hat. Ich glaube ihm natürlich, aber ansonsten weiß ich, dass es diese Bücher bei Rene Madrid gut haben und  er sie vielleicht mehr braucht als ich, der immer noch auf die Gedichte von Uli Becker ausweichen kann. Warum war ich nur so schwach gewesen und habe meine Wondratscheks verliehen?

Ich habe auch mal das kleine Reclamheft von Paul Scheerbart: „Katerpoesie, Mopsiade und andere Gedichte“ an Christina Seck ausgeliehen, die es nur kopieren wollte und auch wenn ich es tatsächlich wiederbekommen habe, war es danach anders gewesen. Es misstraute mir und die Sätze öffneten sich nicht mehr so bereitwillig. Ich habe mir dann „meinen“ Scheerbart noch einmal besorgt, obwohl das Buch in der Reclam-Ausgabe vergriffen war. Vielleicht kann man Krimis ausleihen, die einem nichts bedeuten, oder Reiseführer über Städte, die man hasst, aber Poesiebücher? Ich weiß noch wie ich in diesen drei scheerbartlosen Tagen schlecht geschlafen habe und immer Christina Seck anrufen wollte, um zu fragen, ob es dem Buch gut geht.

Aber um nochmal auf meine Duden-Sammlung zurück zu kommen: Den Duden Band 1 über die Rechtschreibung, habe ich auch nicht zu Ende gelesen. Nach der großen Rechtschreibreform von 1996 war es mir sowieso egal, wie man was schrieb. Das kam mir entgegen, weil Rechtschreibfehler mein zweiter Vorname ist. Man konnte nun die Wörter hinterfragen und einen ganz dicken Wal mit drei a schreiben: Waaal.  Die Druckausgabe über die Rechtschreibung landete dann sogar bei den Büchern, die ich jetzt aussortieren will. Als ich es auf- und zuschlug, dampfte der Staub von 50 Jahren durch mein Zimmer. Ich blätterte zum Abschied den Rechtschreibduden durch und war noch immer überrascht, wie viele Wörter es gibt und dass man sie alle mal falsch schreiben konnte. Es ist beruhigend bei manchen Büchern nie ein Ende zu finden, deswegen liebe ich auch Nachschlagewerke.

5. „Der Kindheitserfinder“, David Grossman (Hanser)

Bedauerlicherweise habe ich auch dieses berühmte Buch nicht zu Ende gelesen. Gerade David Grossman wollte ich so gerne verstehen. Was ich über den Autor gelesen habe, war immer sehr sympathisch. Grossman muss ein kluger und sanfter Mann sein. Leider gab es in dem Buch „Der Kindheitserfinder“, welch ein schöner Titel, Kapitel, die so schmerzhaft zu lesen waren, dass ich sie nicht ausgehalten habe. Ich verstand auch nicht diese Ausführungen, ich meine es wären Unterwasservisionen gewesen, die auf endlos langen Seiten völlig unverständlich, für mich damals unverständlich, ausgeführt wurden. Ich habe es versucht, ich habe sie ja sogar gelesen, aber dann hat mich mein Scheitern ereilt. Ich mag David Grossmans Kinderbücher. Sein Buch „Joram und der Zauberhut: Gutenachtgeschichten“ aus dem Jahre 1998 gehört für mich zu den schönsten Kinderbüchern, die ich besitze. Das Buch möchte ich auch nicht zu Ende lesen, es sollten immer wieder Kinder auftauchen, denen ich es vorlesen darf. 

6.  „Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Leonore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck.“ Leanne Shapton (Berlin Verlag 2010)

Leanne Shapton ist eine kanadische Autorin. Ihr Buch „Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Leonore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck“ ist aufgemacht wie ein Auktionskatalog. Ein fiktives Auktionshaus bildet etwa 300 Gegenstände ab und beschreibt sie; sie dokumentieren den Verlauf der etwa vierjährigen Beziehung zwischen den Kunstfiguren Lenore und Harold. (Wikipedia)  Eine tolle Ausgabe und was für eine wunderbare Idee. Dieses Buch hätte ich auch gerne selbst geschrieben. Man liest es zum Glück nie durch, man entdeckt immer neue kleine Geschichten, die nur entstehen, weil Shapton die Besitztümer der beiden Liebenden zusammenführt. Die „Geschichte“ ist natürlich traurig, aber es ist auch schön zu sehen, dass das sich trennende Paar mal glücklich war. Es gibt auch einen Titel bei Rowohlt „Das Museum der zerbrochenen Beziehungen“, dass ähnlich aufgebaut ist, aber längst nicht so poetisch und anrührend herüber kommt.

Natürlich sind meine Regale voll von Büchern, die ich nicht zu Ende gelesen habe. Es stehen dort sogar viele Bücher, die ich noch nichtmals angefangen habe zu lesen. Aber, ich bin bereit. Meine Biographie als Leser ist noch nicht abgeschlossen. Manchmal gehe ich an meinen Büchern entlang und habe so eine Vorfreude. Von fast allen kenne ich auch noch die Buchhandlung und die Stadt, aus der sie stammen. Leider macht dieses Bestellen im Internet alle diese Erinnerungen kaputt. Irgendwann wurde mir klar, dass ich es in diesem Leben nicht mehr schaffen werde alle meine Lieblingsbücher zu lesen. So kürze ich jetzt manche Bücher ab und es reicht mir ein kurzes Kennenlernen und tschüss. Wie schön, wenn es dann trotzdem Liebe wird.

Fortsetzung folgt…

Erwin Grosche
Foto: Linsensüppchen 54

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Hier lest ihr unser Interviewporträt von Erwin Grosche aus dem Jahr 2013.

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